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von Stephanie Heilmann und Katharina von Radowitz

Angebote der Musikvermittlung sind aus dem Orchesteralltag nicht mehr wegzudenken. Dabei geht es keineswegs nur um Kinder und Jugendliche – neue Hörangebote und Konzertformate sprechen ein altersübergreifendes Publikum an und schaffen es immer öfter, auch neue Zielgruppen an die (klassische) Musik heranzuführen. Dabei betreten beide Seiten Neuland. Der Konzertbetrieb öffnet seine Türen, er bewegt sich aber auch über die eigene Schwelle hinweg zu seinen Hörern. Und auch die Menschen verändern sich und ihre Gewohnheiten, wenn sie erst ihre Ohren und Herzen öffnen. Grund genug, diese „Win-win-Situationen“ zum Prinzip zu erklären. Die meisten Orchester halten inzwischen ein relativ festes Portfolio für junges Publikum bereit, das im „Normalbetrieb“ realisierbar ist, zugleich aber die Routine durchbricht und neue Facetten eröffnet. Die Musiker eines Orchesters (Ensembles) tragen diese Aktivitäten mit und übernehmen wesentliche Aufgaben darin.

Familienkonzerte sind ein musikalischer Treffpunkt der Generationen. Die Inhalte werden so konzipiert und präsentiert, dass alle auf ihre Kosten kommen. In speziellen Einführungen erfahren die Kinder Wissenswertes rund um die Werke und den Ablauf eines Konzerts. Häufig können währenddessen die Erwachsenen eine Konzerthälfte alleine genießen und kleinere (Geschwister-) Kinder werden während des gesamten Konzerts von erfahrenen Pädagogen im Foyer betreut.

Kinderkonzert der Hamburger Symphoniker für „Kleine Lauscher“ zwischen 3 und 6 Jahren, Foto: Hamburger Symphoniker

Demgegenüber sind Kinderkonzerte voll auf ihre Zielgruppe zugeschnitten. Sie gehören mittlerweile bei nahezu allen Orchestern zum ständigen Angebot – Abonnements sind häufig ausverkauft und werden vielerorts regelrecht „vererbt“. Über „Peter und der Wolf“ und „Karneval der Tiere“ sind dabei die meisten längst hinweg: Auf dem Programm stehen Werke vom Mittelalter bis hin zu Neuer Musik, vorgestellt durch einen Moderator. Oftmals werden Kinder direkt in das Geschehen auf der Bühne mit einbezogen. Die Bandbreite zielgruppenspezifischer Angebote wird stetig erweitert und reicht von Konzerten für Schwangere und Babys über Formate für Kindergärten und Grundschulkinder bis hin zu Jugendlichen.

Ein echter Klassiker im Umfeld von Kinderkonzerten sind die Instrumentenvorstellungen. Es mag Hygienefanatiker grausen, aber tatsächlich finden es die meisten Kinder großartig, nacheinander in dasselbe Trompetenmundstück zu blasen. Über den Austausch von Körperflüssigkeiten hinaus bietet sich hier die wunderbare Gelegenheit, Instrumente auszuprobieren und zu erfahren, wie es sich anfühlt, Töne hervorzubringen. Glücklicherweise gibt es ja auch Streichinstrumente und außerdem erlebt man die Orchesterprofis endlich einmal hautnah, die viel von ihrem Instrument und ihrem Beruf zu erzählen wissen.

Im Bereich der Familien- und Kinderkonzerte finden sich immer mehr Varianten:

Konzert für Schwangere und Stillende, Foto: Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz

Baby- oder Krabbelkonzerte werden mittlerweile von vielen Orchestern und Konzerthäusern angeboten. Getragen von der Idee, dass die Begegnung mit klassischer Musik der positiven Entwicklung des Kindes zuträglich ist, wird ein Raum für das frühkindliche Musikerleben geschaffen. Obligatorische Merkmale: Krabbelmatten, Wickelgelegenheit und Kinderwagenstellplatz. Zu den Vorreitern gehören hier Häuser wie die Kölner Philharmonie oder die Stiftung Mozarteum Salzburg.  Wem das noch nicht früh genug ist, der kann seinem Kind auch schon pränatalen Klassikgenuss bieten, bei den Konzerten für Schwangere und Stillende, die bspw. die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz anbietet.

Dr. Sound, Foto: Matthias Mramor

Mobilität mag ein Merkmal der modernen Gesellschaft sein – gleichzeitig gibt es gerade in großen Städten auch sehr viele Menschen, die sich nur in einem sehr begrenzten Radius bewegen. Ob Kiez, Stadtteil oder Veedel, man bleibt auf seiner Scholle und von da ist es ins Konzerthaus meistens zu weit… Also machen sich Orchester und Ensembles auf den Weg und erobern Orte in der Stadt, vom soziokulturellen Zentrum bis zum Schwimmbad. Stadtteilkonzerte bringen die Musik vor die Haustür und öffnen damit neue Welten. Die Elbphilharmonie schickt ihren „Dr. Sound“ gleich 4x pro Saison in 5 verschiedene Hamburger Stadtteile und die Kölner Philharmonie erreicht die Menschen mit „Philharmonie Veedel“.

Bei weitem nicht alle Kinder und Jugendlichen werden von ihren Familien an den Besuch im Konzert oder (Musik) Theater herangeführt. Das hat unterschiedliche Gründe, die oftmals mit der Bildung und Herkunft der Eltern zu tun haben, und in der Regel auch knallharte finanzielle Ursachen haben. Viele Familien können es sich nicht leisten – oder wollen es nicht, weil sie andere Prioritäten setzen.

Angebote für Schulklassen bieten optimale Voraussetzungen, um möglichst viele Kinder zu anzusprechen. Viele Orchester und Konzerthäuser bieten moderierte Konzerte für Schulklassen an. Darüber hinaus bieten Probenbesuche den Schülern Gelegenheit zum Blick hinter die Kulissen des Orchesterbetriebs. Häufig werden zudem Lehrerseminare oder pädagogisches Begleitmaterial angeboten, das die Lehrkräfte bei der Vorbereitung des Konzertbesuchs unterstützt. Darüber hinaus besuchen kleinere Ensembles oder einzelne Musiker die Schulklassen und zeigen ihre Instrumente oder geben einen Vorgeschmack auf das, was die Schüler im Konzert erwartet. Auch hier stellt sich noch das Problem der Finanzierung. Es gibt tatsächlich Lehrer/innen, die aus eigener Tasche den Eintritt für ihre Schüler/innen aus sozial schwächeren Familien bezahlen, manchmal gibt es aber auch an den Schulen Fördertöpfe oder andere Modelle zur Unterstützung.

In der Musikvermittlung geht es nicht immer nur um das Zuhören, sondern auch um das Mitmachen. Ziel der vielfältigen Workshop- und Projektangebote der Orchester ist es, Kindern und Jugendlichen, aber auch erwachsenen Laien einen aktiven und kreativen Zugang zur Musik zu ermöglichen. In Zusammenarbeit mit Orchestermusikern, Komponisten und Künstlern entsteht Neues, Eigenes, das in Kinderkonzerten, Schulvorstellungen oder Extra-Konzerten im Konzertsaal aufgeführt wird. Die Projektformate haben dabei unterschiedliche Dimensionen: Schulbesuche mit einstündigem Workshop zählen dazu ebenso wie großangelegte Langzeitprojekte, die nicht selten in spektakulären Aufführungen ihren Höhepunkt und Abschluss finden. Immer wieder schlägt diesen – oft medial viel beachteten – Leuchtfeuern Kritik entgegen: sie seien einzig auf Effekt angelegt, ihre Nachhaltigkeit und Wirksamkeit fraglich. Solche Einwände mögen auch ihre Berechtigung haben. Dennoch haben strahlkräftige „Events“ eine nicht zu verachtende Wirkung auf die Öffentlichkeit, die nur so davon erfährt, welche Leistungen die Orchesterlandschaft für und im Zusammenspiel mit ihrem Publikum erbringt und welche Begeisterung dabei entstehen kann. Und auch wenn bestimmte Projekte einmaligen Charakter haben, so kann genau diese eine Erfahrung die Liebe zur Musik wecken und noch lange nachklingen.

Kompositionsklasse des Ensembles L’ART POUR L’ART, Foto: L’ART POUR L’ART

Ein Thema, das sich in den letzten Jahren immer stärker bemerkbar macht, ist das Komponieren. Eigentlich auch merkwürdig: im Kunstunterricht in Schulen ist es selbstverständlich, dass man Kunstwerke nicht nur anschaut, sondern auch selbst malt und zeichnet. Und auch im Deutsch- und Englischunterricht wird nicht nur gelesen, sondern es werden eigene Geschichten und Gedichte erfunden. Warum also nicht auch in der Musik? Das Niveau der Kompositionsworkshops und -werkstätten ist ganz unterschiedlich, ebenso ihre Intensität und Dauer. Die Berliner Philharmoniker schreiben jährlich einen Wettbewerb für junge Komponisten aus, das Werk des Gewinners wird von Mitgliedern der Philharmoniker aufgeführt. Das Ensemble L’ART POUR L’ART in Niedersachsen hat eine eigene Kinderkompositionsklasse und auch an der Staatsoper Berlin und am Nordharzer Städtebundtheater („Orchesterwerkstatt Halberstadt“) probieren sich junge Tonkünstler aus. Weitere Informationen zum Thema unter www.musik-erfinden.de

Projekt SING! des Rundfunkchores Berlin, Foto: Gundula Friese / Rundfunkchor Berlin

Im Grenzbereich von Schule/Kindergarten, Hochschule und Profimusikern sind Projekte zur Förderung des Singens angesiedelt. Zu den Vorreitern gehören das Projekt „Primacanta“ in Frankfurt oder die bundesweite Initiative „Canto elementar“. Dabei geht es darum, Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter für das Singen zu begeistern und dem Singen einen selbstverständlichen Platz im Alltag zu verschaffen. Wichtiger Baustein dieser Aktivitäten zu „Grundmusikalisierung“ ist auch die Fortbildung von Erzieher/innen und Lehrer/innen, denen es häufig an Selbstvertrauen und Kompetenz in diesem Bereich mangelt. Dieses Feld wird allmählich auch von Profichören entdeckt – so engagiert sich bspw. der Rundfunkchor Berlin mit dem Projekt „SING!“ für die Qualität und Quantität des Singens im Berliner Schulalltag.

Die meisten Musikvermittlungsangebote erfordern eine gewisse Aktivität und Initiative der beteiligten Musiker. Konzerte an anderen Orten bieten nicht immer denselben Standard wie der heimische Orchestergraben mit Service durch den Orchesterwart. Es gilt, plötzlich dem Moderator eines Kinderkonzertes Rede und Antwort zu stehen, Dinge vorzumachen und zu erklären und vielleicht stellt sich da manchem die Frage: „Ja, was mache ich hier eigentlich all die Jahre mit meinem Instrument – und warum?!“ Kinder fragen unverblümt nach und langweilen sich wahrnehmbar, wenn der Spannungsbogen nicht stimmt, sie unterfordert sind oder nicht ernst genommen werden. Gerade die Arbeit in Workshops fordert den Musiker als Profi und als Mensch. Man kann sich für diese Arbeit professionalisieren, es gibt dafür Kurse und Weiterbildungsangebote – aber man muss es wollen. Es ist zu respektieren, wenn jemand das nicht will. Und manchmal fehlt eben einfach die Zeit, weil ein Orchester auf Tournee nicht auch noch in Schulen Workshops anbieten kann.

Trompis Zeitreise mit Jochen Keller

Zugleich engagieren sich immer mehr Orchestermusiker mit eigenen Projekten: Der Trompeter Jochen Keller von der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz beispielsweise vermittelt auf www.trompis-zeitreise.de Kindern seine Faszination für Trompeten und verwandte Instrumente und führt sie multimedial und interaktiv durch die spannende Welt der Musikgeschichte. Seine Seite wurde für den Grimme Online-Award 2012 nominiert.  Franz Kanefzky, Hornist im Münchner Rundfunkorchester und Komponist, ermöglicht mit seinem Konzept „KinderStundeMusik“ berührende Konzerterlebnisse und begeistert Kinder für klassische Musik.

Eine gute Lösung, gerade für Konzerthäuser, die kein eigenes Ensemble haben und in denen viele Gastspiele stattfinden, ist das Entwickeln von interaktiven Rahmenprogrammen um Konzerte herum. Die Elbphilharmonie hat in der Reihe „Orchester 3.0“ drei Jugendorchester präsentiert. Im Vorfeld wurden in Kooperation mit verschiedenen Institutionen und Schulen vor Ort Projekte entwickelt, die auf diese Auftritte hinführten. So entwickelten Jugendliche Plakate und Programmhefte, eine Klanginstallation für das Foyer und Konzerteinführungen. Auf diese Weise konnte die Neugier auf die Konzerte geweckt und eine Identifikation der Jugendlichen mit dem Ereignis gestiftet werden.

Wassily Gerassimez, Gewinner des Publikumspreises beim TONALi Grand Prix 2012, Foto: Swanhild Kruckelmann

Eine andere Strategie ist es, Musiker ein wenig zu ihrem Glück zu „zwingen“. Der TONALi Grand Prix in Hamburg richtet sich an Nachwuchsmusiker (Streicher). Nicht nur gilt es, sich auf der Bühne zu bewähren: Jedem von ihnen wird zudem eine Hamburger Schule zugewiesen, deren Schüler zugleich die Manager, Konzertveranstalter und PR-Strategen des jungen Musikers werden. Sie organisieren anhand einer Checkliste Auftritte, entsenden je einen Juror in die Schülerjury und sind schließlich beim Abschlusskonzert in der Hamburger Laeiszhalle dazu aufgefordert, möglichst viel Publikum mitzubringen. Ein Ticker auf der TONALi-Homepage berichtet über den Stand des Vorverkaufs und das Ranking der Schulen. Dieser Schachzug integriert das Publikum in den Verlauf des Wettkampfs. Je mehr die Schüler einer Schule Werbung machen, den Musiker unterstützen, desto höher sind die Erfolgsaussichten, zumal das Publikum während des Konzerts via SMS-Voting darüber abstimmen kann, wer einen der drei Publikumspreise gewinnen soll. Für beide Seiten eine spannende Erfahrung – hier lernen junge Künstler früh, dass das Publikum eine maßgebliche Größe für den Erfolg ist.

In der Musikvermittlung steht die feste Orchesterszene nicht zuletzt in einem Wechselspiel mit der freien Szene. Kleinere Ensembles entwickeln tourneefähige Kinder- und Familienkonzertformate, die von Konzerthäusern eingeladen werden. Einzelne Protagonisten werden als Moderatoren, Workshopleiter oder Dramaturgen von Orchestern und Institutionen engagiert. An dieser Stelle ist der Musikbetrieb durchlässiger als an anderen Stellen, denn wo es um mehr geht, als das Musizieren auf dem Konzertpodium, greifen Professionen ineinander, unterschiedliche Disziplinen, Gewerke und Kompetenzen spielen zusammen. So entsteht sicherlich Reibung, aber auch Kreativität.

Preisträger des junge ohren preis 2011, Foto: Hermann Pentermann

Seit 2006 gibt der junge ohren preis jedes Jahr Anlass zu einer Bestandsaufnahme, denn hier bewerben sich repräsentative Beispiele aus der Praxis im Bereich Musikvermittlung im deutschsprachigen Raum. Schon jetzt zeigt sich eine bemerkenswerte Bandbreite, die sich in stetiger Bewegung befindet und sich immer wieder neu erfindet. Vielleicht beginnt sich hier ein Wandel des Musiklebens zu realisieren, der den vielfach düsteren Prognosen für die Zukunft der Klassik neue erfolgversprechende Perspektiven entgegenstellt.

Weitere Akteure und Projekte der Musikvermittlung im netzwerk junge ohren.

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Artikels „Vielfalt statt Einfalt – Musikvermittlungsangebote von Orchestern im Überblick“, der in der Ausgabe 7-8/2011 der Zeitschrift „das Orchester“ erschien.